Mittwoch, 16. Mai 2018

Das mit der Opferrolle

Lange Zeit hab ich's ja nicht verstanden. Raus aus der Opferrolle heißt es allenorts, Schluß mit der Jammerhaltung, auf in ein neues, erfülltes Leben!
Wenn ich sowas gehört habe, bin ich sofort bockig geworden.
Denn es WAR doch Tatsache, daß ich 

- von diversen Ärzten falsch bzw. garnicht behandelt wurde und daher jahrelang unnötig krank war
- aufgrund der unerkannten/unbehandelten Krankheit meinen supergut bezahlten Job verloren habe
- mein Vater eh so ein ungerechtes Mensch war der mir immer das Gefühl gab widerlich und unnötig zu sein, nur eine Belastung für denjenigen der sich grad mit mir befassen muß und wer sich freiwillig mit mir abgibt der KANN ja nicht ganz sauber sein
- meine Brüder viel mehr Geld haben als ich eben weil mein Vater etc. pp. ...

Aber jetzt bin ich draufgekommen, wie das gemeint ist.
Beziehungsweise ich hab mir eine Erklärung zurechtgedacht, die für mich paßt.

Nun gab es ja schon länger diverse Überlegungen von mir die in die Richtung gingen, daß ja noch lange nicht gesagt ist, daß alles so wunderbar gelaufen wäre wie ich es mir von hier aus vorstelle, wenn ich damals wirklich hätte in Ruhe meine Schule zuendebringen und auch studieren können, wie meine Brüder. Was hätte ich denn studiert? Vergleichende Literaturwissenschaften und Anglistik? Das hätte mir nicht nur die Freude an jeglicher Literatur vermiest (weil man ja alles dermaßen auseinanderklamüsern und totdiskutieren muß, daß vom die Seele berührenden Wesen eines Gedichts NICHTS mehr übrigbleibt) sondern es stellt sich auch ganz klar die Frage, was ich mit dem Abschluß überhaupt hätte anfangen können? Lehramt? Ganz sicher, ich liebe Kinder wie jeder weiß ...
Taxifahren? Klar, mit Autos bin ich schon immer bestens zurechtgekommen ...
Also dead end.

Abgesehen davon, daß meine Englischkenntnisse miserabel wären, ich habe damals bei den Cambridge Tests Englischstudentinnen erlebt, die hatten keine Ahnung. Aber studiert hattense. 

Nee, also dann lese ich doch lieber einfach so was ich will und wann ich will und muß hinterher KEINE Zusammenfassung und Analyse schreiben.
Haha.

Am Ende wäre ich eine langweilige arrogante Trantüte geworden, die keine Ahnung vom Leben hat und schon 'huch' schreit wenn ihr jemand mit der Bierflasche in der Hand entgegenkommt und die Gras nicht von H unterscheiden kann weil 'das sind ja alles schlimme Drogen von denen man sofort süchtig wird und stirbt'. Jo eh.

Der Job bei Glaxo hätte mich langfristig auch nicht happy gemacht, Leute wie mich konnten die dort nicht brauchen. Ohne die Intervention von Holger und Monika (die ja die treibende Kraft hinter allem war) hätte man mich zwar nicht sofort hinausgeworfen sondern mir einen alternativen Job angeboten nachdem die Abteilung geschlossen worden war, aber was für einen? Back-office? Den ganzen Tag telefonieren? Absoluter Traumjob. Dann doch lieber mit Abfindung raus und gut is.

Und was die jahrzehntelangen Krankheiten betrifft, durch die hatte ich doch erst die Gelegenheit, zu reifen. Wenn immer alles glatt geht im Leben, da überlegt einer doch nicht, da zweifelt er nicht, geschweige denn daß er VERzweifelt. Da geht immer alles im gleichen Trott, und irgendwann passiert dann doch mal was und dann ist man am Boden zerstört. Waaaaaaah!

Bei mir dagegen war ständig was. Da rüttelt es einen von Anfang an ordentlich durch und man weiß schon früh, daß nichts so bleibt wie es ist und man lernt, mit Veränderungen umzugehen.

Das ist das eine.

Das andere ist die Erkenntnis, daß die Eva, die ich geworden wäre, wenn mein Leben anders verlaufen wäre, mit mir so überhaupt nichts zu tun hat. Die existiert, wenn wir das mal quantenphysikalisch sehen wollen, in einem Paralleluniversum, gibt dort ihre unausgegorenen Weisheiten von sich und treibt ihren Ehemann, den sie zweifellos als gute Tochter hat, in den Wahnsinn. Oder er sie, wer weiß das schon so genau. Tatsache ist jedenfalls, daß ich mit keiner dieser möglichen Evas irgendeinen Berührungspunkt habe. Also macht es auch wenig Sinn, auch nur ein Fuzerl von Energie darauf zu verschwenden, die Zeit zurückdrehen zu wollen bzw. mir einen anderen Lebensverlauf zu wünschen.

Es hat einen Grund, warum ich genau da stehe wo ich stehe.
Warum ich genau das erlebt habe, was ich erlebt habe.
Nämlich der, daß ich nur so der Ev werden konnte, der ich geworden bin.
Und der ist absolut gut so wie er ist. Der beste aller Evs.
DER kann nun aus der Opferrolle endlich raus, muß keine alternativen Lebensentwürfe mehr beweinen sondern kann sich aussuchen, wohin er von da, wo er jetzt steht, gerne hinmöchte.
Es ist ja alles möglich.
Gut, ein berühmter Mathematiker oder ein Rennfahrer wird aus mir sicher keiner werden, aber das hatte ich sowieso nie vor. 

Ich kann also nun getrost einen Schritt zur Seite treten, die alten Geschichten da lassen wo sie hingehören, nämlich in der Vergangenheit, und mich freuen, daß ich in der Gegenwart soviele nette Menschen um mich habe, von denen niemand nur dumm rumsäuft und jammert sondern die allesamt interessante Ideen haben und mir frische Impulse geben für mein neues Leben - und vice versa.